Die Skepsis gegenüber einem Staat, der wegen einer sich rasch ausbreitenden Krankheit die Freiheit seiner Bürger einschränken wollte, stieß auf erheblichen Widerstand – zum Beispiel im freiheitsliebenden Rio de Janeiro. Die Behörden würden die Gefährlichkeit dieser Krankheit mit Absicht übertreiben, schrieb die in Rio erscheinende Satirezeitschrift „Careta“ und nannte die Epidemie abschätzig „limpa-velhos“, also eine Krankheit, die nur die Alten „wegputzt“. Für die Regierenden sei sie aber ein willkommener Anlass, eine „Diktatur der Wissenschaft“ zu errichten und die Bürgerrechte nach Belieben einzuschränken. Wenig später war die Lage dramatisch, wie aus den Erinnerungen eines Stadtbewohners zu entnehmen ist: „In meiner Straße sah man aus dem Fenster ein Meer von Leichen. Die Leute betteten die Füße der Toten auf den Fenstersims, damit die staatlichen Hilfsorganisationen sie mitnehmen konnten. Da die Hilfskräfte aber nur langsam vorankamen, breitete sich nach einiger Zeit Gestank aus; die Leichen begannen sich aufzublähen und zu verwesen, und so ging man allgemein dazu über, die Toten einfach auf die Straßen zu werfen.“ Erst ein Karnevalist verschaffte Abhilfe. Mit einer Straßenbahn transportierte er in den Nächten Leichen aus der ganzen Stadt zum Friedhof von Cajú. Diese Schilderung bezieht sich nicht auf die Corona-Pandemie von 2020, sondern auf die Spanische Grippe, die 1918, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, über die Welt hereinbrach. Sie stammt aus einem Buch der britischen Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney. Titel: „1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte.“ Die englische Ausgabe („The Pale Rider“) erschien 2017. Das Buch weiß also noch nichts von der Covid19-Pandemie. Trotzdem hilft es, zu verstehen, was jetzt, in der schwersten Pandemie seit 100 Jahren, vor sich geht. Denn genau das ist äußerst schwierig.
Die „Spanische“ und die „kleine“ Grippe
Eine „kleine Grippe“ nennt Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro die aktuelle Pandemie. Viele Debatten von damals werden auch heute geführt. Vielerorts stritt man schon damals über die Wirksamkeit von Atemschutzmasken und anderer Maßnahmen. Social distancing, Lockdown: dieses Instrumentarium stand auch damals schon zur Verfügung – und stieß auf Befürworter und Gegner. Wenn heute vielfach beklagt wird, dass auch Virologinnen und Virologen nicht immer einer Meinung sind, ist es hilfreich, sich den Fortschritt der Wissenschaft seit damals zu vergegenwärtigen. Als die Spanische Grippe – die übrigens ihren Ursprung sicher nicht in Spanien hatte – ausbrach, wusste man noch nichts von Viren, sondern hielt zumeist noch ein Bakterium für den Erreger der Grippe. Die Medizin stand der gefährlichen Krankheit weitgehend hilflos gegenüber – ganz anders als heute, wo in den Spitälern auch ohne spezifisches Medikament beachtliche Heilungserfolge erzielt werden. Die Spanische Grippe war auch um ein Vielfaches tödlicher als Covid19. Nachdem sie zwei Jahre lang in drei Wellen gewütet hatte, waren ihr nach seriösen Schätzungen weltweit 75 Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Zum Vergleich: Covid19 hat bis Oktober 2020 offiziell eine Million Menschen getötet.
Experten befürchten allerdings, dass die zweite Million schon zum Jahreswechsel erreicht sein könnte. Denn die Pandemie breitet sich sehr schnell aus. Eine Hölle für Betroffene. Aber mit den Zahlen ist das so eine Sache. Erstens kennt niemand die Dunkelziffer. Zweitens vermittelt jede Statistik den falschen Eindruck einer gleichmäßigen Verteilung. Aber während die Krankheit für viele Menschen symptomlos oder mild wie ein grippaler Infekt verläuft, quält und tötet sie andere. Die Pandemie schafft sich Hotspots und macht dort das Leben der Betroffenen zur Hölle. Wer die Berichte über den zermürbenden Kampf des medizinischen Personals in den überfüllten Spitälern etwa der Lombardei, New Yorks oder eines anderen Covid-Hotspots mitverfolgt hat, tut sich schwer, das Virus für harmlos zu halten. Erschwerend kommt dazu, dass sehr wohl auch – wenn auch in weit geringerem Ausmaß – jüngere Menschen schwere Verläufe erleben und mit Langzeitfolgen der Krankheit kämpfen. Mächtige Männer wie US-Präsident Donald Trump oder Brasiliens Jair Bolsonaro nahmen hohe Todeszahlen in Kauf, um die Wirtschaft zu schützen, und verschafften sich durch einen lockeren Umgang mit der Pandemie eine zweifelhafte Popularität. Auch in Europa mehren sich mittlerweile Stimmen, die sich gegen allzu strikte Schutzmaßnahmen aussprechen und versuchen, die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass man lernen müsse, auf lange Sicht mit dem Virus zu leben. Wie groß ist die Gefahr? Wie viele Tote darf man in Kauf nehmen? Welche Einschränkungen des Lebens sind angemessen? Was muss um jeden Preis verhindert werden? Wann kommt eine Impfung und: Wird sie das Blatt wenden? Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Debatten um Corona bald erledigt haben werden. Die Pandemie macht in vieler Hinsicht unbarmherzig deutlich, was ein Dilemma ist.
Eine ungerechte Welt
Zweifellos haben die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Abwehr Folgen, die weit über ein Gesundheitsproblem hinausgehen. Pandemiebedingte Einbrüche der Wirtschaft dürften bis weit in die Zwanzigerjahre hinein zu massiven Verwerfungen führen. Dabei wirft das Virus ein gleißendes Licht auf die ungleiche Verteilung von Lebenschancen auf diesem Planeten. Während in reichen Industriestaaten für einen großen Teil der Bevölkerung ein Ausweichen ins Home-Office zwar ungewohnt, aber machbar war, ist etwa für Tagelöhner in Rio oder Bombay das „Social distancing“ gleichbedeutend mit einer existentiellen Bedrohung. In den USA zeigt sich, dass afroamerikanische Bevölkerungsteile ein weit höheres Risiko haben, an der Krankheit zu sterben, als der reiche weiße Mittelstand. Dasselbe gilt für indigene Völker. Aus vielen afrikanischen Staaten kommen eher positive Nachrichten, was eine relativ geringe Verbreitung des Virus betrifft. Aber die durch Corona ausgelösten Versorgungsprobleme entfachen – gemeinsam mit vielen anderen Faktoren wie einer enormen Heuschreckenplage in Ostafrika – Hungersnöte. Für vermutlich lange Zeit drohen armutsbedingte Erscheinungen wie Mangelernährung und Kindersterblichkeit zurückzukehren – auch in Gegenden, in denen sich die Lage bereits gebessert hatte. Die Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an das UN-Welternäherungsprogramm (World Food Program, WFP) setzt ein klares Zeichen. Das Engagement der weltweit führenden Organisation im Kampf gegen den Hunger stand in diesem Jahr auch im Zeichen der Corona- Krise. Ihre Anstrengungen gingen und gehen dabei über das normale Ausmaß weit hinaus. Weil Coronabedingt kaum mehr Passagierflugzeuge unterwegs waren, musste die Organisation mit enormem logistischen Aufwand Flugbrücken einrichten, um Katastrophen zu vermeiden und Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter in Länder des Südens zu transportieren.
Ein Mangel an Informationen Obwohl die Corona-Pandemie anhaltend alle Schlagzeilen dominiert, kommen aus vielen Weltgegenden relativ wenige Nachrichten, denn auch für Journalisten ist das Reisen schwierig geworden. Dass sich Zeitgenossen angesichts der Komplexität der Lage in diverse Verschwörungsszenarien flüchten und die Pandemie als „Plandemie“, als von bösen Kräften im Hintergrund gesteuert beschreiben, steht einer differenzierten Wahrnehmung der schwersten Pandemie seit der Spanischen Grippe zusätzlich im Weg.
Projektpartnerinnen und -partner der MIVA sind in ihren jeweiligen Einsatzländern auf unterschiedliche Weise mit den Folgen der Pandemie konfrontiert. Einige von ihnen haben auf Anfrage des MIVA-Briefes ihre Eindrücke geschildert.